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08 RUSSLANDS NA CHBARN MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG
Nr. 3 (610) FEBRUAR 2024
Wikimedia Commons
„Das Ende der Lügen“ Helsinki calling
Polen zieht Absturzursache nicht mehr in Zweifel Finnland justiert seinen Kurs neu
5,5 Millionen Finnen haben einen gen geben. Seit dem 15. Dezember
neuen Präsidenten. Und es ist sind alle acht finnisch-russischen
keiner, der versöhnliche Töne in Grenzübergange für den Personen-
Richtung Moskau schickt. Der verkehr geschlossen. Finnland wirft
große Nachbar im Osten war Russland vor, dass es Migranten
eines der bestimmenden Themen aus Asien und Afrika nach Finn-
im Wahlkampf. land in Marsch setzt, um Spannun-
gen zu erzeugen. Moskau weist das
Egal, wer die Stichwahl um das zurück.
Präsidentenamt am 11. Februar In einer TV-Debatte vor der
gewinnen würde, eines war schon Stichwahl hatte Stubb erklärt, man
vorher klar: Finnland würde einen sei nun in einer Situation, in der
politikerfahren Nachfolger für den „Russland, und speziell Wladimir
Die Unglücksmaschine der polnischen Luftwaffe auf einem früheren Foto beliebten Sauli Niinistö bekom- Putin, Menschen als Waffe gebrau-
men, der nach zweimal sechs Jah- chen“. Migranten zu instrumenta-
Am 10. April 2010 war der der polnischen Präsidentenmaschi- Chancen auf Erfolg“. Der stellver- ren nicht mehr wiedergewählt lisieren, sei ein „gnadenloser, zyni-
damalige polnische Präsident ne 2010 bei Smolensk gehörte, ist tretende Verteidigungsminister werden konnte. Um das höchste scher Schritt“. Man müsse deshalb
Lech Kaczynski auf dem Weg zu unter diesen Vorzeichen immerhin Cesar Tomczyk sagte, von nun an Amt im Staate bewarben sich mit die Sicherheit Russland ganz nach
einer Gedenkfeier am Mahnmal erstaunlich. gelte wieder der Abschlussbericht dem früheren Ministerpräsiden- vorn rücken, verteidigte er die
von Katyn westlich der russischen Die Arbeit der Kommission der sogenannten Miller-Kommis- ten Alexander Stubb von der libe- Grenzschließung. Haavisto pflich-
Stadt Smolensk. Aber dort kam unter Vorsitz von Ex-Verteidi- sion, benannt nach dem damaligen ral-konservativen Sammungspartei tete ihm bei: Es sei an der Zeit,
er nie an. Seine Tu-154 stürz- gungsminister Antoni Macierewicz Innenminister Jerzy Miller, aus und dem ehemaligen Außenminis- Moskau ein unmissverständliches
te beim Landeanflug ab, alle soll nun selbst Gegenstand einer dem Jahr 2011 als offizielle Posi- ter Pekka Haavisto, unabhängiger Signal zu senden, dass es „so nicht
96 Insassen starben. Bis heute Untersuchung werden. Sie hatte tion Polens. „Das ist das Ende der Kandidaten der Grünen und offen weitergehen“ könne.
hat die Aufklärung dieser Tra- über die Jahre zahlreiche Theo rien Lügen“, so Tomczyk vor der Pres- homosexuell, zwei Profis des Polit- Überhaupt waren die Beziehun-
gödie in Polen oberste Priorität. zur Absturzursache verbreitet und se. Neu aufgerollt werden soll der betriebs. Am Ende setzte sich der gen zu Russland eines der bestim-
Doch die neue Regierung Tusk immer wieder einen Anschlag ins Fall nicht. 55-jährige Stubb mit einer knap- menden Themen im Wahlkampf.
schlägt nun einen anderen Weg Spiel gebracht. Demnach sollen Die Miller-Kommis sion war pen Mehrheit von 51,6 Prozent Und wenn sich früher mit einem
ein als ihre Vorgänger. Explosionen an Bord die Maschi- in der Hauptsache zu ähnli- der Stimmen durch und konnte Plädoyer für Ausgleich und Ver-
ne noch vor dem Aufprall zerstört chen Schlüssen gekommen wie anschließend zumindest eines ver- ständigung Wählerstimmen gewin-
haben. Das wurde mit der Zeit als eine russische der Behörde MAK sichern: „Ich bin fest davon über- nen ließen, so war diesmal alles
Von Tino Künzel
fast schon gesicherte Tatsache aus- zuvor. Demnach hatten die Pilo- zeugt, dass Finnland in den kom- anders. Vom ersten Wahlgang
Es kann Donald Tusk nicht um gegeben und kam bei der rechtskon- ten den Unfall verursacht, weil sie menden Jahren das beste Land der Ende Januar an, als sechs Männer
ein paar politische Kurskorrek- servativen PiS-Anhängerschaft gut trotz völlig unzureichender Sicht Welt bleibt.“ und drei Frauen für das Amt kan-
turen gegangen sein, als er Mitte an. Nur beweisen lässt es sich nicht. den Landeanflug erst dann abzu- Weiter sagte Stubb, Finnland didierten, versuchten sämtliche
Dezember zum zweiten Mal nach Und es widerspricht den Untersu- brechen versuchten, als es zu spät stünde „an der Schwelle einer Bewerber, sich möglichst deut-
den Jahren 2007 bis 2014 das Amt chungsergebnissen von drei frühe- war. Die polnische Militärstaatsan- neuen Ära“, denn die internationa- lich von Russland abzugrenzen. In
des polnischen Ministerpräsi- ren Kommissionen sowohl in Russ- walt stützte 2015 diese Erkenntnis. le Ordnung werde von verschiede- Zeiten wachsender geopolitischer
denten antrat. Nach acht Jahren land als auch in Polen. Dass es sich um mehr als einen nen Seiten attackiert. Der neue Prä- Spannungen stieß das bei den
konservativer PiS-Regierung steht Dass Polen angesichts dieser Fak- Unfall handeln könnte, dafür wur- sident gilt als überzeugter Europäer 4,5 Millionen Wählern auf offene
der frühere EU-Ratspräsident im tenlage vor den Europäischen Men- den keine Anzeichen gefunden. und darüber hinaus als langjähriger Ohren.
Gegenteil für einen fundamenta- schenrechtsgerichtshof ziehen und Der 10. April 2010 ist für die Befürworter eines Nato-Beitritts, Das finnische Staatsoberhaupt
len Politikwechsel. Dass zu den dort Russland verklagen wollte, hat Polen bis heute ein nationales den Finnland nun im April des hat weitreichende Kompetenzen
ersten Amtshandlungen die Auf- die neue Regierung nun rückgängig Trauma. An jenem Tag wollte Prä- vorigen Jahres als 31. Mitglied voll- bei der Außen- und Sicherheitspoli-
lösung einer von der Vorgängerre- gemacht. Außenminister Radoslaw sident Lech Kaczyinski in Russ- zogen hat. tik, vertritt das Land bei Nato-Tref-
gierung 2016 eingesetzte Untersu- Sikorski erklärte, eine solche Klage land des 70. Jahrestags des Massa- Noch vor wenigen Jahren hätte fen und ist Oberbefehlshaber der
chungskommission zum Absturz habe „nicht einmal theoretische kers von Katyn gedenken, bei dem sich dafür unter keinen Umständen Streitkräfte. Deshalb wurde der
NKWD-Soldaten 1940 Tausende eine Mehrheit gefunden. Die Fin- Wahl eine große Bedeutung für den
polnische Gefangene erschossen nen wussten ihre Blockfreiheit zu künftigen Kurs beigemessen, auch
Wikimedia Commons hatten. Der russische Premier Putin schätzen. Auch Niinistö war nicht wenn Stubb und Haavisto geopoli-
und Tusk hatten sich am Mahnmal zuletzt deshalb so populär, weil er tisch mehr oder weniger auf einer
von Katyn westlich von Smolensk auf ein gutes Verhältnis zu Russ-
Trotz der im Vergleich zu frühe-
bereits drei Tage vorher getroffen. land setzte, mit dem sich Finnland Linie lagen.
Nun folgten neben Kaczynski und immerhin eine 1340 Kilometer ren Wahlen ungewohnt harschen
seiner Frau Maria auch weitere lange Landgrenze teilt. Doch die Rhetorik gegenüber Russland
hochrangige Politiker, Abgeordne- russische „Sonderoperation“ in der mahnte der scheidende Präsident
te und fast die gesamte militärische Ukraine hat die Lage schlagartig Sauli Niinistö zuletzt, die Brücken
Führung des Landes. verändert, Vertrauen erschüttert nicht gänzlich abzubrechen. „Für
Doch beim Anflug auf den Mili- und Ängste geweckt. Niinistö, der uns ist es äußerst wichtig, die Ver-
tärflughafen Smolensk Nord kam „Putin-Flüsterer“, leitete das Ende bindung nicht nur mit den Verei-
es in dichtem Nebel zur Katastro- der Neutralität ein. Stubb sagt, mit nigten Staaten, sondern auch mit
phe. Ob die vierköpfige Besatzung Russland und der dortigen Führung China und, sobald es realistisch ist,
der Tupolew Tu-154 unter Druck könne es unter den jetzigen Bedin- mit Russland aufrechtzuerhalten“,
gesetzt wurde oder sich selbst unter gungen keine politischen Beziehun- sagte er dem Sender YLE. tk
Druck setzte: Jedenfalls wollte sie
die Landung zumindest versuchen,
anstatt von vornherein einen Aus-
weichflughafen anzusteuern wie Wikimedia Commons
zuvor eine russische Il-76. Dabei
war sich die Crew über ihre tat-
sächliche Flughöhe nicht im Kla-
ren, bis die Maschine mit Bäumen
kollidierte und zerschellte.
Anders als der russische
Abschlussbericht wollte die Mil-
ler-Kommission den Piloten aber
nicht die Alleinschuld anlasten.
Auch die Flutlotsen seien ihrer
Aufgabe nicht gewachsen gewe-
sen und die Bäume in der Anflug-
schneise hätten beräumt werden
Ein polnisches Plakat mit den Porträts der Absturzopfer
können, hieß es. Klassisch, aber nicht pompös: der Präsidentenpalast in Helsinki