Page 17 - 610
P. 17
MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG KULTUR 09
Nr. 3 (610) FEBRUAR 2024
Meisterwerk in Bestform
Andrej Tarkowskis Film „Opfer“ in restaurierter Fassung auf der Berlinale
Sieben Spielfilme hat Andrej
Tarkowski zwischen 1962 und Filmszene
1986 gedreht. „Offret“ (Opfer)
war die letzte Arbeit des Regis-
seurs kurz vor seinem Tod mit
nur 54 Jahren. Jetzt erlebt dieser
preisgekrönte Film eine zweite
Weltpremiere. Bei den 74. Inter-
nationalen Filmfestspielen Berlin
läuft er im Rahmen der „Berlinale
Classics“ in einer restaurierten
Fassung.
Von Ira Posrednikowa
Die Berlinale findet diesmal vom
15. bis 25. Februar statt. Schon
traditionell gehören auch die „Ber-
linale Classics“ zu den Sektio-
nen des Festivals. In diesem Jahr
präsentieren Rainer Rother, der
künstlerische Direktor der Deut-
schen Kinemathek, und sein Team
dem Publikum zehn Meisterwerke
aus den Jahren 1920 bis 2005. Alle
werden sie erstmals in restaurierter
und digitalisierter Fassung gezeigt.
So kehrt 70 Jahre nach seiner
Erstaufführung der Filmklassiker
„Godzilla“ von Ishiro Honda auf die In „Offret/Opfer“ ist von einem Tag auf den anderen nichts mehr, wie es war.
große Leinwand zurück. Auch John
Schlesingers „Der Tag der Heu- zeichnet. Der Filmemacher konn- die Zeit fixieren. Er hat die Zeit beeindruckt von der herausragen- etwas habe ich noch nie vorher
schrecke“, „Battle in Heaven“ von te an der Ehrung nicht persönlich Ende der 1980er Jahre festgehal- den Qualität der Restaurierung. Sie gesehen. Dass „Offret“ in Schweden
Carlos Reygadas und der Gewinner teilnehmen, er starb wenige Mona- ten. Der Abschluss der Dreharbei- bewahrt insbesondere die meister- gemacht wurde, war mir gar nicht
des „Goldenen Bären“ 1981, „Los, te später in Paris an Krebs. ten an „Offret“ fiel mit der Tragö- hafte Lichtsetzung und Farbdra- so bewusst, bevor ich mich mit dem
Tempo!“ von Carlos Saura, sind zu „Offret“ erzählt von wenigen die im Atomkraftwerk Tschernobyl maturgie mitsamt ihren Sepia- und Film beschäftigt habe. Aber das
sehen. Tagen im Leben einer bürgerlichen zusammen. Tarkowskis letzte beide Schwarz-Weiß-Passagen. Wir sind ist ja auch eine sehr interessante
Ernst Lubitsch (1892–1947) ist Familie, in deren gewohnten Alltag Filme entstanden bereits in Euro- begeistert, das Schaffen von Andrej Konstellation.
sogar zweimal vertreten – mit plötzlich apokalyptische Ereignisse pa – „Nostalghia“ in Italien und Tarkowski würdigen zu können, Da wir bereits wussten, dass
seinem Stummfilm „Kohlhiesels platzen: Das Fernsehen berichtet „Offret“ in Schweden. Ungeachtet indem wir seinen letzten Film auf wir „Godzilla“ zeigen würden, ein
Töchter“ und seinem ersten Ton- von einer heraufziehenden ato- dessen, dass sein Schaffen in der der Berlinale präsentieren. Film, der auch eine Atomkatas-
film „Liebesparade“. Ein weiterer maren Katastrophe. In einem ver- Sowjetunion Beschränkungen und trophe thematisiert, aber auf ganz
deutscher Film, der die Zuschau- zweifelten Versuch, den Frieden zu Kontrolle unterlag: Vielleicht hätte Annika Haupts, Prog ramm koor di- andere Art und Weise, in einem
er überraschen wird, ist „Reifezeit“ retten und die Normalität wieder er noch mehr gedreht, wäre er in natorin ganz anderen Land, unter anderen
von Sohrab Shahid Saless. Beson- herzustellen, ist Hauptheld Alexan- Russland geblieben. Die „Berlinale Classics“ gibt es seit Vorzeichen, war auch das noch ein
dere Aufmerksamkeit verdient „Die der bereit, alles zu opfern, was ihm Sämtliche Filme dieses Meis- 2013. Sie funktionieren so, dass im Aspekt. Dass sich hier zwei Filme
Zeit nach Mitternacht“ von US-Er- lieb und teuer ist. ters gehören längst zu den wah- Herbst die Filme eingereicht wer- ergänzen, auf ihre Weise Fragen
folgsregisseur Martin Scorsese, der Gedreht wurde auf der schwe- ren Schätzen der Kinematografie. den und wir dann schauen, welche nach der menschlichen Moral und
bei der Berlinale mit einem „Golde- dischen Insel Gotland in schwe- Mehr noch, viele heutige Autoren zehn wählt man von den 60 Vor- Verantwortung stellen. Auch das
nen Ehrenbären“ für sein Lebens- discher Sprache. Tarkowski lebte zitieren daraus bis heute. So greift schlägen aus, die es beispielsweise war ein Grund, „Offret“ für die
werk ausgezeichnet wird. damals bereits einige Jahr im Lars von Trier in „Melancholia“ für dieses Jahr waren? Welches Pro- „Berlinale Classics“ auszuwählen.
Und dann wäre da noch „Offret“ Ausland. Von den Dreharbeiten und „Antichrist“ einige Handlungs- gramm stellt man daraus zusam-
(Opfer) von Andrej Tarkowski, eine zu „Nostalghia“ in Italien war er stränge von „Offret“ auf und rein- men, sodass vielleicht für jeden Saskia Walker, Filmemacherin und
schwedisch-britisch-französische nicht in die Sowjetunion zurück- terpretiert sie auf seine Art. etwas dabei ist, aber man eventuell Mitherausgeberin der Filmzeit-
Koproduktion aus dem Jahre 1986. gekehrt. Für viele, die das Phäno- Fragt man einen beliebigen auch Bezüge zwischen den Filmen schrift „Revolver“
Für die 4K-Restaurierung des Films men Tarkowski zu entschlüsseln gestandenen Filmkritiker nach herstellt? Und wenn es sich bei dem im Fern-
zeichnete das Svenska Filminstitu- versuchen, hat er in „Offret“ in die den bedeutendsten Regisseuren Als wir „Offret“ bekommen sehen angekündigten Weltenende
tet verantwortlich. Zukunft geblickt und die Gefahr der Sowjetzeit, werden mit hoher haben, war das direkt ein Titel für um eine Propaganda-Falschmel-
Tarkowski nimmt in der Welt eines Atomkriegs vorweggenom- Wahrscheinlichkeit die Namen die Shortlist. Denn einen so großen dung handelte und das abgeschnit-
der Kinematografie einen beson- men sowie zur Opferbereitschaft Eisenstein und Tarkowski fallen. Regisseur, einen der wichtigsten tene Telefon eine zufällige Panne
deren Platz ein. Er ist wohl der um der Bewahrung des Friedens Wobei Ersterer wohl vor allem Filmemacher überhaupt mit einer ist? Tarkowki schildert Alexanders
einzige Regisseur aus dem sowjeti- willen aufgerufen. als Lehrstoff bekannt ist, während 4K-Restaurierung neu und wie- Opfer fast als Satire, als hoffnungs-
schen Raum, der auch im Ausland man sich das Werk des Letzteren derzuentdecken, ist natürlich sehr loses, sogar sinnloses Opfer. Eine
überall bekannt und geschätzt ist. Anastassia Kusina, Filmjournalistin selbstständig erschlossen und dabei spannend. Die langsamen Einstel- zerstörte Familie, die ihn weniger
Gleich sein Debüt-Spielfilm „Iwans Es heißt, dass man Künstler in Pro- Begeisterung und Bewunderung lungen und die langen Monologe, interessiert als das zerstörte, einsam
Kindheit“ von 1962 begeisterte die pheten und Visionäre unterteilen empfunden hat. die den Film ausmachen, haben gelegene, bourgeoise Familienheim.
Kritiker und erhielt den „Goldenen kann. Die einen sagen etwas vor- etwas Hypnotisierendes, man wird Für nichts. Und welche Rolle spielt
Löwen“ bei den Filmfestspielen von aus, was in vielen Jahren eintritt, die Rainer Rother, Sektionsleiter förmlich in die Handlung hineinge- die interessanteste Figur des Films,
Venedig. anderen sehen etwas kommen, was „ Berlinale Classics“ zogen. Dazu ist die Restaurierung der spirituelle Postbote? Führt auch
In den darauffolgenden 24 Jah- die unmittelbare Zukunft betrifft. Wir haben „Offret/Opfer“ für von den Kollegen aus dem Schwe- er Alexander in die Irre? Handelt
ren bis zu seinem Tod 1986 dreh- Tarkowski zählt zu den Letzteren. die diesjährigen „Berlinale Clas- dischen Filminstitut wirklich fan- es sich nur um eine Projektion, um
te Tarkowski noch sechs weitere „Offret“ handelt vom drohenden sics“ ausgewählt, weil wir von der tastisch. Sie bringt die grandiose eine außereheliche Liebschaft zu
Filme. „Offret“ war sein letzter. Untergang der Welt in der Folge Geschichte fasziniert waren, die Kameraarbeit und die farbliche rechtfertigen? Eine Liebschaft rein
Die Dreharbeiten standen bereits eines Atomkriegs. Der Hauptheld Kamermann Sven Nykvist so bril- Mythologie so richtig zum Aus- aus Mitleid gar? Unter den gediege-
im Zeichen der schweren Krank- beschließt, die Welt zu retten, indem lant eingefangen hat. In poeti- druck. Der Film sieht toll aus, das nen Bildern ist der Grund brüchig
heit des Regisseurs. Kein Wunder, er sich selbst opfert. Damit behandelt schen Bildern und einem philoso- muss man einfach so anerkennend und, wie bei jedem großen Kunst-
dass viele Zuschauer und Experten der Film ein verstörendes Thema, phisch-religiösen Dialog trifft sich sagen. Und das war natürlich auch werk, die Wahrnehmung frei.
in dem Film eine Art Vermächt- das uns auch heute angeht. Er ist der schonungslose Blick auf das ein Kriterium für uns. Jeder Film der „Berlinale Clas-
nis sehen. Das Werk wurde bei nicht weniger aktuell als „Oppenhei- Leben des Protagonisten mit einem Tarkowski hat eine unvergleich- sics“ läuft an zwei bis drei Termi-
den Internationalen Filmfestspie- mer“ von Christopher Nolan. starken Plädoyer für Selbstreflexi- liche Handschrift. Er ist einer der nen. „Offret“ wird am 17., 18. und
len von Cannes unter anderem mit Von Tarkowski stammt der on und Selbstbegrenzung. Außer- wenigen Regisseure, deren Filme 19. Februar in verschiedenen Ber-
dem Großen Preis der Jury ausge- Satz, dass der Film und das Kino dem war die Auswahlkommission man sich anschaut und sagt: So liner Kinos gezeigt.