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08 REGIONEN MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG
Nr. 5 (588) MÄRZ 2023
Hoffentlich geht alles gut
Aus dem Alltag eines Bergmanns im nordrussischen Kohlerevier Workuta
Keine andere russische Großstadt Jedes Unglück hier beweint die
hat seit dem Ende der Sowjetuni- ganze Stadt. Ganz egal, ob man die
on so massiv Einwohner verloren Tino Künzel (2) Toten kannte oder nicht. Das ist
wie Workuta. Aber Anatoli Dja- nun mal eine Bergarbeiterstadt. In
konow (43) ist immer noch da – der Beziehung sind wir eine große
und das gern. In der MDZ spricht Familie. Wenn es zu solch einer
der Bergmann über das Leben im Tragödie kommt, dann schweißt
hohen Norden, seine Arbeit in der das die Leute erst recht zusammen.
Kohlegrube und den Umgang mit Natürlich nimmt einen so etwas
schweren Unglücken. mit. Und natürlich denkst du dir
jedes Mal: Es hätte auch mich
erwischen können. Aber wenn du
Eine schwarze Stadt danach wieder zur Arbeit gehst,
Schon mein Vater hat in Worku- dann hast du besser einen klaren
ta unter Tage gearbeitet. Dabei Kopf wie ein Chirurg. Denn wenn
stammen wir ursprünglich aus du nicht bei der Sache bist, dann
der Ukraine. Aber zu Sowjetzeiten ist das der erste Schritt zu einem
konnte man hier oben gutes Geld nächsten Unfall. Du hast eine Fami-
verdienen, das hat Leute aus dem lie, die dich gesund und munter
gesamten Land angelockt. Auch braucht, das sollte dein wichtigster
meinen Vater, der Ende der 1980er Gedanke sein. Egal was kommt: Du
Jahre im Komsomolskaja-Schacht darfst dich davon nicht kaputtma-
angefangen hat. Später, kurz vor chen lassen.
dem Zerfall der Sowjetunion, hat Aber eines kann ich Ihnen sagen:
er uns nachgeholt, da war ich neun Die Zeit heilt diese Wunden nicht.
oder zehn Jahre alt. Ich erinnere Auf dem Gelände einer kürzlich im altrussischen Stil erbauten Holzkirche in der Innenstadt von Meine tödlich verunglückten Freun-
Workuta erinnern Marmortafeln an die Opfer von Unfällen in den Kohlebergwerken der Stadt.
mich genau: April, Schnee, aber er de stehen mir immer vor Augen.
war nicht weiß, sondern schwarz. Und manchmal, wenn jemand eine
eigen die
men. 2013 hat eine Methan-
Die ganze Stadt war schwarz. und einen Abschluss in der Tasche geringer aus. Dabei steigen die men. 2013 witzige Geschichte erzählt, dann
gas-Explosion im Workutins-
nsmittel
Heute wird mit Gas geheizt, aber gehabt. Aber nach drei Schich- Preise allein für Lebensmittel gas-Explo trifft es einen plötzlich wie ein
kaja-Schacht – in meinem
damals wurde Kohle verfeuert. ten ist ihm klar geworden: Das ist ständig. kaja-Scha Schlag: Der und der hat doch auch
unmitte
Und bei den hiesigen Frösten ging nichts für mich. Heute arbeitet er unmittelbaren Arbeitsbe- oft etwas erzählt, mit dem und dem
schön was durch die Esse. Diese bei der Eisenbahn und hat es bis reich haben wir gemeinsam gelacht. Das
reich – 19 Tote gefor-
Asche jedenfalls setzte sich auf zum Stationsvorsteher gebracht. Gehen oder dert vergisst man nicht. Das bleibt.
dert. Der letzte tödliche
den Dächern der Baracken ab, die Er ist heilfroh, dass er sich damals Bleiben? Unfall bei uns liegt
U
es zu jener Zeit noch gab, und war so entschieden hat. Wie man bei Zu Sowjetzeiten gab drei Jahre zurück:
einfach überall. Ich weiß noch, wie uns im Scherz sagt: Ich habe dort es hier 13 Gruben, wieder Methangas, Launen der Natur
ich entgeistert aus dem Busfenster unten nichts vergraben, also muss heute sind es noch keine Explosion, oder menschliches
Versagen?
geschaut und mich gefragt habe, ich auch nichts ausgraben. vier. Die Leute aber zwei Opfer.
wo wir denn hier gelandet sind. Mir Mein Kindheitstraum war, Fern- verlassen Wor- Es ist bekannt, Ich bin kein Professor oder so
wurde regelrecht angst und bange. fahrer zu werden. An den Bergbau kuta nicht, weil es Anatoli Djankonow hat dass der Kohleabbau und nicht in der Position, globa-
der MDZ erzählt, was es
Aber das ist nun weit über 30 habe ich keinen Gedanken ver- ihnen schlecht ging, heißt, Bergmann zu sein. in Workuta wegen le Antworten auf die schwieri-
Jahre her. Ich bin längst selbst schwendet, bevor wir nicht hier- sondern weil es an einer hohen Methan- ge Fragen nach den Ursachen für
Familienvater, habe fünf Kinder, her umgezogen sind. Heute bin ich Arbeit fehlt und sie ihre Kinder gas-Konzentration vergleichsweise diese Katastrophen zu geben. Jeder
arbeite schon 20 Jahre im Schacht. stolz, ein Kohlekumpel zu sein. Mir ernähren müssen. Es wäre etwas große Gefahren birgt. Wir Ber- kann sich seine Theorien stricken,
Mir gefällt es hier sehr. Ich bedaue- macht die Arbeit Spaß, trotz allem, anderes, wenn man von einer Ent- gleute werden immer wieder von aber welche ist richtig? Wir ver-
re kein bisschen, dass es uns damals trotz des Drecks, der Feuchtig- wicklung sprechen könnte, von kla- Außenstehenden gefragt: Ihr wisst suchen jedenfalls, uns in unserem
ausgerechnet nach Workuta ver- keit. Der Zusammenhalt unter uns ren Zukunftsperspektiven. Wenn doch, wie gefährlich das ist, warum Berufsalltag so zu verhalten, dass
schlagen hat. Man muss das erlebt Berg leuten ist größer als anderswo. mal wieder Gruben eröffnet und arbeitet ihr dann dort? Ja, jeder Risiken minimiert werden. Aber
haben, wenn es bei uns noch im Und es wird viel gelacht, man zieht nicht nur welche geschlossen wür- weiß das. Man weiß, welchem Risi- leider kommt es immer wieder vor,
Mai oder Juni schneit und dann sich ständig gegenseitig auf. Ohne den. Vorkommen sind vorhanden, ko man ausgesetzt ist. Man hofft, dass Bergmänner zur falschen Zeit
auf einen Schlag der Frühling da ist Humor bist du im Schacht verloren. noch vor zehn Jahren war die Rede dass alles gut geht und man unver- am falschen Ort sind.
und alles blüht und sprießt. Oder davon, sie erschließen zu wollen. sehrt wieder nach Hause kommt.
wenn du im Juli bei 25 Grad zur Warum das nicht passiert? Ich weiß Was soll ich sonst dazu sagen? Aufgeschrieben von Tino Künzel
Arbeit fährst und zum Feierabend Elf-Stunden-Tag es nicht.
Schnee fällt. Workuta ist immer für Eine Schicht dauert bei uns sechs Wenn es bei uns wieder aufwärts
eine Überraschung gut. Stunden. Aber de facto verbringen ginge, dann hätten wir auch wie- INFO
Wir haben hier neun Mona- wir elf Stunden auf der Arbeit. Ich der Zuzug, da bin ich mir sicher.
te Winter. Auf die restlichen drei stehe halb fünf auf, um 5 Uhr geht Und es kämen die zurück, die sich Workuta
Monate entfallen die anderen Jah- der Bus. Ich wohne ganz in der aus Workuta verabschiedet haben.
reszeiten. Das muss man mögen. Es Nähe der Grube Workutinskaja, Was mich betrifft: Ich bin hier In Russland gilt Workuta als steuern, indem sie Wohnhäuser
ist tatsächlich nicht ganz einfach, wo ich in der Frühschicht arbei- zufrieden und will nicht weg. Ich Musterbeispiel einer sogenann- in abgelegenen Außensiedlungen
als Bergmann den gesamten Win- te, deshalb nimmt der Arbeitsweg wüsste auch gar nicht wohin. Aber ten Monostadt, deren Wohl nicht mehr unterhält und die
ter über die Sonne nicht zu sehen. kaum zehn Minuten in Anspruch. natürlich stellt man sich die Frage, und Wehe mit einem einzigen dort verbliebenen Menschen ins
Früh geht es im Dunkeln zur Arbeit, Ab halb sechs erhalten wir unse- wie das alles mal weitergehen soll. Industriebetrieb steht und fällt. Zentrum umsiedelt, was immer-
nachmittags im Dunkeln wieder re Ausrüstung, ziehen uns um und Fürs Erste würde ich mir gern ein Gerät der ins Taumeln, wird die hin den Haushalt entlastet. Vor
nach Hause. Die Sonne scheint ja fahren in die Grube ein. Dann ver- Häuschen kaufen, wo wir uns im gesamte Stadt zum Problemfall. Ort hat man nicht das Gefühl,
nur ein paar Stunden, wenn über- geht noch mal eine Stunde, um Sommer erholen können. Das ist Workuta, im Vorland des Polaren dass in diesem Vorzeigeprojekt
haupt. An den dunkelsten Tagen im unseren Arbeitsplatz unter Tage zu auf lange Sicht allemal günstiger, Urals und mitten in der Tundra der Sowjetzeit, erbaut in den
Dezember liegt zwischen Sonnen- erreichen. Um 8 Uhr beginnt der als Urlaub im Süden zu machen, gelegen, hat heute noch offi- 1940er und 1950er Jahren vor
auf- und -untergang wenig mehr als eigentliche Arbeitstag und endet was für uns als Großfamilie kaum ziell 57 000 Einwohner. Als die allem von Gulag-Sträflingen,
eine halbe Stunde. Dafür ist es im um 14 Uhr. Danach dasselbe in zu stemmen ist. Und was brauchen Sowjet union unterging, waren bald die Lichter ausgehen könn-
Sommer bei uns auch nachts taghell. umgekehrter Richtung. Um 16 Uhr denn die Kinder, um gesund aufzu- es doppelt so viele. Mehr als ein ten. Der namhafte Metallurgie-
bringt mich der Bus nach Hause. wachsen? Einen See, ein Flüsschen, Drittel aller Wohnungen steht konzern Severstal hat sich unter-
Ich finde, dass wir dafür nicht Wald und frische Luft. leer. Eine voll ausgestatte Woh- dessen aber aus Workuta zurück-
Nichts für Jedermann gerade gut bezahlt werden. nung könne man heute schon für gezogen. 2003 hatte er das
Die Arbeit im Schacht ist hart. Wer 120 000 Rubel im Monat (umge- 700 000 Rubel erwerben, umge- Kohleunternehmen Workutaugol
sich damit nicht anfreunden kann, rechnet rund 1500 Euro), das ist Die unsichtbare Gefahr rechnet weniger als 9000 Euro, übernommen, Ende 2021 ver-
sucht sich besser gleich einen ande- schwach. Und selbst diese Summe Mein erstes Bergwerksunglück zitierte die „Rossijskaja Gaseta“ kaufte er 100 Prozent seiner
ren Job. Ein Cousin von mir hat das ist nicht garantiert, sondern setzt habe ich 2004 im Komsomols- vorigen Sommer den Bürgermeis- Anteile an die wenig bekannte
drei Tage ausgehalten. Er hat sich voraus, dass der Plan erfüllt wird. kaja-Schacht miterlebt, dabei ist ter. Die Stadt versucht gegenzu- „Russkaja Energija“-Gruppe.
zum Bergmann ausbilden lassen Ansonsten fällt der Lohn noch ein Arbeiter ums Leben gekom-