Page 21 - 645-646
P. 21

MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG          DEUT SCHE  RUSSLANDS                                                                                        09
        Nr. 14–15 (645–646) AUGUST 2025






                  Johann Diesendorf und seine Nachkommen



                                Die wechselhafte Geschichte einer Familie aus Katharinenstadt

                                                                                                                                  zu interessieren und fragte meine
                                                                                                                               Aus den Familienarchiv (3)  ten. Mit vielen Verwandten – den
                                                                                                                                  Verwandten, was sie darüber wuss-

                                                                                                                                  Diesendorfs, Karles, Lipperts und
                                                                                                                                  anderen – stehen wir in Kontakt.
                                                                                                                                  Wir besuchen regelmäßig Marx, wo
                                                                                                                                  wir auf den Friedhof und ins Muse-
                                                                                                                                  um gehen und einfach durch die
                                                                                                                                  Straßen spazieren. Zum Glück sind
                                                                                                                                  mein Mann und ich näher an diese
                                                                                                                                  Stadt gezogen: nach Wolschski
                                                                                                                                  in der Region Wolgograd. Mit-
                                                                                                                                  glieder  unserer  Familie  schenken
                                                                                                                                  dem Heimatmuseum von Marx
                                                                                                                                  Familienerbstücke.
                                                                                                                                    Wir sind sehr stolz auf unser
                                                                                                                                  Familienfotoarchiv. Wir stellen
                                                                                                                                  Fotos für verschiedene Ausstel-
                                                                                                                                  lungen und andere Veranstaltun-
                                                                                                                                  gen zur Verfügung. So hat bei-
                                                                                                                                  spielsweise die lokale Abteilung
                                                                                                                                  der nationalen Kulturautonomie
                                                                                                                                  der Russlanddeutschen anhand
          Peter Diesendorf mit seiner   Robert Diesendorf (Brunos Bruder), Ehefrau Hedwig, geb. Karle, und Tochter Franziska (um 1920)  einiger unserer Fotos die Trach-
          Frau Sofia, geb. Miller (1878
          oder 1879)                                                                                                              ten der Stadtbewohner zu Beginn
                                      Zweige der Familie Diesendorf  rere Dutzend Scheunen am Hafen.  in  einem  Transitlager.  Seine  Frau  des 20. Jahrhunderts wiederherge-
        Vom 19. bis 23. August fei-   hinterließen zahlreiche Nachkom-  Wenig später gründeten die Brü-  Olga Diesendorf (geb. Karle) blieb  stellt. Sie werden gerade bei einem
        erte die Wolgastadt Marx ihr   men.  Vom  ältesten  Sohn,  Johann  der die Baronische Handels- und  mit zwei Söhnen allein zurück.  Treffen gezeigt, das anlässlich der
        260-jähriges Jubiläum. Sie    Adam, führt der Stammbaum zu  Industriegesellschaft (Baronsk ist  1941 wurden sie und ihr jüngster  Feierlichkeiten zum Jubiläum von
        wurde 1765 als Katharinenstadt   Viktor Diesendorf, einem bekann-  der zweite Name von Katharinen-  Sohn Martyn deportiert und lande-  Marx stattfindet.
        gegründet. Zu den Jubiläumsakti-  ten Historiker. Er starb im April  stadt). Peter besaß 50 Prozent des  ten im Krasnojarsker Gebiet.
        vitäten gehörte auch ein Treffen   dieses Jahres in Deutschland. Unser  Gesellschaftskapitals.   Der ältere Sohn Leopold war zu  Aufgezeichnet von Olga Silantjewa
        der Nachkommen berühmter      Zweig stammt vom jüngsten Sohn,   Nach der Revolution 1917 wurde  diesem Zeitpunkt in der Armee.
        Familien dieser ehemaligen deut-  Jakob  Karl. Auf  dem  alten  deut-  ihr Vermögen verstaatlicht. Gustav  Er wurde aus der Armee entlassen
        schen Kolonie, wie Diesendorf,   schen Friedhof in Marx gibt es  ging ins Ausland. Und Peter blieb  und in ein Arbeitslager in Udmur-
        Karle und Rauschenbach. Die   noch immer den Grabstein seines  in Katharinenstadt. Sein Sohn  tien geschickt. Am Ende des Krie-
        Teilnehmerin der Veranstaltung,   Sohnes Johann Peter.       Bruno, mein Urgroßvater, studier-  ges heiratete er, und im August
        Anastassija Diesendorf, erzählt   Seine Kinder, Peter und Gustav,  te vor dem Krieg in Österreich, in  1945 wurde dort mein Vater gebo-
        von ihren Vorfahren.          wurden zu bekannten Unter-     Graz. Die Wolgadeutschen schick-  ren. Seine Familie zog noch mehr-
                                      nehmern in der Kolonie. Im Jahr  ten ihre Söhne oft zum Studium ins  mals um. In den 1950er Jahren zog
        Der erste Diesendorf in Kathari-  1900 gründeten sie das Handels-  Ausland. Als der Erste Weltkrieg  sie in die Region Krasnojarsk, um
        nenstadt hieß Johann. Aber woher  haus „Brüder P. und G. Diesen-  begann, wollte Bruno nach Russ-  sich mit ihren Verwandten wie-
        er kam, wissen wir noch nicht. Sein  dorf“. Sie beschäftigten sich mit  land zurückkehren, wurde aber als  der zu vereinen. Von dort ging es
        Name ist in keiner der erhaltenen  Belyany – Lastkähnen, die für den  „Russe“ gefangen genommen.   weiter in die Region Tula, um in
        Schiffslisten verzeichnet. In den  Transport von Holz aus dem obe-  Erst nach dem Krieg gelangte er  den Bergwerken zu arbeiten. Nach
        Volkszählungslisten der Kolonisten  ren Wolgagebiet flussabwärts ver-  in seine Heimat zurück. Im Jahr  dem Studium entschied sich mein
        von 1798 werden seine Witwe, vier  wendet wurden. Dort verarbeitete  1937 wurde er verhaftet. Ihm wurde  Vater, nach Ischewsk zu gehen.
        Söhne und drei Töchter erwähnt.  man es zu Brennholz und verkauf-  antisowjetische Agitation vorge-  Dort wurde ich geboren.
        Einer  der  Söhne  starb  kinderlos.  te es. Sie handelten mit Getreide  worfen  und  er  wurde  zu  10  Jah-  Mit 15 Jahren begann ich mich   Bruno Diesendorf
        Aber auch die drei männlichen  und  Mehl.  Ihnen  gehörten  meh-  ren Lagerhaft verurteilt. Er starb  für die Geschichte meiner Familie   (Ende der 1900er Jahre)





                                       Das hübsche deutsche Marx



                                             Schönheitswettbewerb anläßlich des Jubiläums


        In Marx an der Wolga erin-    in einem deutschen Gebäude aus  die Modenschau wurden von der
        nerte man sich dieser Tage an   dem Jahr 1911. Und letztes Jahr war  wunderbaren  Schneiderin  Jelena
        die Geschichte der Stadt, die   ich als Fotografin mit der Jugend-  Arndt genäht.           Dmitri Bujnizkij
        Fußballmannschaft der Russ-   gruppe „Jugendstadt“ auf Tournee.   Außerdem standen eine deut-
        landdeutschen trug ein Freund-  Während dieser Reise habe ich  sche  Polka  und  kreative  Darbie-
        schaftsspiel aus, und es traten   mich sozusagen neu entdeckt und  tungen  auf  dem  Programm.  Ich
        Folkloregruppen auf. Zum ersten   begann mich für die Kultur meiner  habe Goethes Gedicht „Gefunden“
        Mal fand ein Schönheitswett-  Vorfahren zu interessieren.    auf Deutsch vorgelesen, zu dem ich
        bewerb unter den russlanddeut-  Alle Teilnehmerinnen des Schön-  eine Übersetzung verfasst habe.
        schen Frauen statt. Die MDZ bat   heitswettbewerbs, die aus Marx,   Der Sieg im Wettbewerb ist eine
        die Gewinnerin Maria Gerber, ihre  Engels, Saratow und Gebiet Oren-  tolle Sache. Aber noch wichtiger ist
        Eindrücke zu schildern.       burg kamen, hatten vieles über ihre  die besondere Atmosphäre dieser
                                      deutschen Wurzeln zu erzählen.  Veranstaltung.  Der  symbolische
        Manchmal scheint es, als hätte  Und das taten sie im Rahmen ihrer  Abschluss war die Aufführung des
        jemand das Leben im Voraus  Selbstpräsentation.              Liedes „Die Welt eilt zum Guten“
        geplant. Ich bin Russlanddeutsche   Aber damit waren die Prüfun-  durch die Mitglieder des Vokalen-
        und arbeite in der Redaktion der  gen  des  Wettbewerbs  noch  nicht  sembles „Veilchen“.
        Kreiszeitung „Woloschka“, der  zu Ende. Wir präsentierten dem   Das  ist  ein  guter  Ansporn,  sich
        Nachfolgerin der in den 1930er Jah-  Publikum die Trachten und das  noch mehr für die Bewahrung der
        ren im Kanton Marxstadt erschei-  Kunsthandwerk. Die Mädchen  Kultur derer einzusetzen, die einst
        nenden Zeitung „Rote Sturmfah-  hatten  selbst genähte  deutsche  dem Manifest der Kaiserin Katha-  Maria Gerber (links) und anderen Teilnehmerinnen
        ne“. Die Redaktion befindet sich  Hauben dabei. Die Trachten für  rina II. gefolgt sind.     des Wettbewerbs steht die deutsche Tracht sehr gut.
   16   17   18   19   20   21   22   23   24   25   26