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10                                 DEUT SCHE  RUSSLANDS                                                                       Nr. 14–15 (645–646) AUGUST 2025
                                                                                                                                        MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG







                        „Klein-Deutschland“ in Tscheljabinsk



                             Dem deutschen Viertel der Stadt der Metallurgen droht der Abriss

        Die Backsteinhäuser in der Sozia-
        listitscheskaja-Straße in Tschelja-
        binsk, die von den unterdrückten                                                                                                                       Jekaterina Nikitina
        Sowjetdeutschen gebaut wur-
        den, sind noch immer lebendige
        Geschichte. In den letzten Jahren
        wurden diese Backsteingebäu-
        de sowohl als architektonisches
        Denkmal eingestuft als auch
        als abbruchreif bezeichnet. Sie
        begeistern Stadtentwickler, inte-
        ressieren jedoch die Bewohner
        selbst und die regionalen Behör-
        den wenig. „Regionaler Aspekt“
        hat gemeinsam mit dem Portal „V
        lesah“ die Geschichte der deut-
        schen Häuser erzählt.


               Unterdrükte
               Bauarbeiter
        Bei der Anfahrt zum Metallurgi-
        schen Bezirk sieht man nur Fab-
        rikschornsteine und eine kilo-
        meterlange Industriezone. Umso
        überraschender ist es, vor Ort
        eine perfekte sowjetische Stadt mit
        einem repräsentativen Boulevard
        und einem Kulturhaus mit Säu-
        len vorzufinden. Und wenn man
        abbiegt, sieht man ruhige, grüne
        Straßen mit niedrigen Häusern.
        Der TMS – so wird dieser Bezirk
        einfach genannt (nach dem Tschel-                            „Ein finsteres Hamburg“ in der Sozialistischen Straße
        jabinsker Metallwerk  – Anm. d.
        Red.) – hat seine Nachkriegsbe-  1944 entschied der Leiter vom  gespielt. Fotos und Erinnerungen  stellte sich heraus, dass es kein Ort  Film über den TMS und kam zu
        bauung und das Gefühl der Ver-  Tscheljabinsker staatlichen Bau-  von Alteingesessenen zufolge gefiel  war,  an  dem  irgendwelche  Spin-  dem Schluss, dass die fast 80 Jahre
        hältnismäßigkeit zum Menschen  unternehmen Generalmajor Jakow  es den Stadtbewohnern, hier spa-  ner herumlungerten und die Fab-  alten Häuser selbst ohne Renovie-
        bewahrt. Auf der Metallurgen-Stra-  Rapoport: „Der Krieg neigt sich  zieren zu gehen und neue Bekannt-  rik rauchte. Das deutsche Viertel  rung besser aussehen als moderne
        ße rumpeln noch immer alte Stra-  dem Ende zu, lasst uns etwas Inter-  schaften  zu  schließen,  sodass  die  war überhaupt nicht so, wie man  Wohnsiedlungen. Der Autor des
        ßenbahnen. Und in der benachbar-  essanteres bauen.“ So überliefert es  Promenade sogar den Spitznamen  es sich vorstellte. Ich war von die-  Projekts „Redaktion“, Alexej Piwo-
        ten Sozialistischen Straße steht die  der Heimatforscher Juri Latyschew.  „Straße der Liebe“ erhielt. „Für die-  ser Architektur total begeistert“,  warow*, bezeichnete Tscheljabinsk
        bekannteste  und  leidvollste  lokale  Der Chef soll angeordnet haben,  jenigen, die in der Fabrik schufte-  erinnert sich die Reiseleiterin Julia  als „einen Ort, den man so schnell
        Sehenswürdigkeit: das deutsche  unter den Häftlingen, höchstwahr-  ten, waren diese gepflegten Häus-  Semejkina.          wie möglich verlassen sollte“, lobte
        Viertel oder „Klein-Deutschland“.  scheinlich Kriegsgefangenen, Leute  chen viele Jahre lang ein Symbol   Sie war zuvor noch nie im Metal-  jedoch das Viertel an der Sozia-
          Der Bau in diesem Stadtteil wurde  zu finden, die neue Häuser entwer-  für Leben, Frieden und Freiheit“,  lurgischen Bezirk gewesen. Laut  listischen Straße als „ein trübes,
        von Zwangsarbeitern durchgeführt,  fen konnten, und wählte aus den  kommentiert Tatjana Pellenen, die  Julia ist das für die Einwohner von  finsteres  Hamburg“.  Auch  Pawel
        die zu Beginn des Großen Vater-  vorgeschlagenen Entwürfen genau  in diesem Viertel aufgewachsen ist.  Tscheljabinsk keine Seltenheit.  Gnilorybow, Gründer des Kanals
        ländischen Krieges für den Bau des  den aus, der an die Bebauung euro-  Die Wohnungen in den deut-  Auch der Reiseleiter Alexej Kon-  „Architektonische Extravaganzen“,
        Tscheljabinsker Metallwerks mobi-  päischer Städte erinnerte.  schen Häusern waren für die Arbei-  dratjew  hat  das deutsche  Viertel  hält die deutschen Häuser für „die
        lisiert worden waren. Der Indu-  Die Häftlinge errichteten etwa  ter des Metallwerks bestimmt. In  nicht auf Anhieb gemocht. Er sah  schönsten“.
        striegigant wurde  in  Rekordzeit  zwei Dutzend Häuser nach „deut-  ihnen  zu  wohnen,  war  nicht  nur  es zum ersten Mal in der Schule
        und unter anderem mit Hilfe von  schem“ Entwurf. Die Gebäude  ehrenvoll, sondern auch komfor-  in den 1980er Jahren, aber damals
        Tausenden  von  Zwangsarbeitern  waren über mehrere Stadtteile von  tabel. Mit der Zeit wurden einige  machte es keinen Eindruck auf ihn:   Das touristische
                                                                                                                                           Mekka in
        der Trudarmee errichtet. Dabei  der Mir-Straße bis zur Elektrostals-  Gebäude abgerissen und an ihrer  „Da stehen einfach Häuser, deren   Tscheljabinsk
        handelte es sich hauptsächlich um  kaja-Straße verteilt. Die Namen der  Stelle entstanden Hochhäuser in  Architektur mein kindliches Gemüt
        Deutsche aus dem Wolgagebiet  Architekten und Ingenieure sind  Plattenbauweise. Die sieben Häu-  nicht besonders beeindruckte.  Von Jahr zu Jahr wurden immer
        sowie um sowjetische Staatsbürger  unbekannt. Es konnten nur indirek-  ser auf der Seite der Sozialistischen  [Und dann] begannen Blogger eine  mehr  Menschen  neugierig  auf
        finnischer und ungarischer Nati-  te Hinweise auf die Beteiligung von  Straße mit den geraden Hausnum-  Welle zu schlagen: Schaut mal, was  die  deutschen  Häuser.  Das  wurde
        onalität, die als „potenzielle Fein-  Deutschen an der Planung gefun-  mern von 26 bis 38 blieben jedoch  ihr hier habt und wie cool das ist.  besonders  während  der  Covid-
        de“ verhaftet und weit weg von der  den werden. Latyschew erzählt bei-  unberührt.         Wir schauten hin und sahen: Tat-  Pandemie deutlich, erzählt Aleksej
        Westgrenze umgesiedelt worden  spielsweise, dass in den Archiven   Neben den eleganten Fassaden  sächlich gibt es so etwas nirgend-  Kondratjew. Damals begannen die
        waren. Später, nach der Schlacht  Zeichnungen einer Fernwärmelei-  sind  auch  die  schmiedeeisernen  wo sonst. Da begannen wir, es zu  Menschen, sich mehr für die loka-
        von Stalingrad, wurden Gefange-  tung gefunden wurden, die von der  Geländer in den Eingängen, die  wertschätzen.“        le Geschichte zu interessieren und
        ne – Deutsche, Rumänen und Itali-  Heizungsanlage des Werks zu den  verrosteten Adressschilder mit   Um die Jahrtausendwende  Stadtrundgänge zu machen.
        ener – nach Tscheljabinsk gebracht.  Häusern führt. Darauf stehen deut-  „Vordach“ und die alten Zäune  tauchten die ersten Beiträge über   Seit 2022 bieten er und Julia
        Sie wurden auf das Lager Nr. 68 ver-  sche Namen.            erhalten geblieben. An einigen Stel-  „Klein-Deutschland“ im LiveJour-  Semejkina, seine Kollegin vom
        teilt und vermutlich ebenfalls zum                           len ist sogar noch das originale Glas  nal auf. Der örtliche Verein „Rad  Ausflugsbüro „Chelyabinsk zu
        Bau des Werks herangezogen.                                  in den Fenstern erhalten. Berühmt  der Geschichte“ organisierte Füh-  Fuß“, regelmäßig Führungen durch
          Viele Arbeitsarmeeangehöri-    Die Straße der Liebe        wurde das Viertel allerdings erst in  rungen – hauptsächlich für begeis-  die Stadt der Metallurgen an. Nach
        ge blieben später in der Stadt der  „Das ist etwas völlig Ungewöhnli-  der letzten Zeit.   terte Heimatforscher. Die Häuser  Einschätzung der Reiseleiter kom-
        Metallurgen wohnen. „Diese Wur-  ches. So ein imaginiertes Europa“,                        wurden häufiger fotografiert. Und  men die meisten Teilnehmer aus
        zeln sind bis heute spürbar. In der  sagt der Tscheljabinsker Historiker                   2013 widmete die Fernsehsendung  anderen Regionen. Seltener kom-
        Gegend gibt es immer noch viele  Ilja Prontschenko, der sich mit der   „Ein finsteres      „Istfak“ dem deutschen Viertel eine  men auch Einheimische. Manch-
        Menschen mit deutschen Nachna-  Architektur sozialistischer Städte   Hamburg“              Folge, in der der damalige Chefar-  mal sind auch Reisende aus ande-
        men. Es gibt eine katholische Kir-  beschäftigt.             „Als ich 17 Jahre alt war, fragte  chitekt von Tscheljabinsk, Nikolai  ren Städten und Ländern in der
        che und eine lutherische Kirche“,   Die ersten Häuser waren 1946  mich mein Vater: ‚Weißt du eigent-  Juschchenko, es als seinen Lieb-  Gruppe.
        erzählt der Reiseleiter Alexej Kon-  fertiggestellt. Zur gleichen Zeit  lich, dass es ein deutsches Vier-  lingsort in der Stadt bezeichnete   Nach Aussage der Reiseleiter
        dratjew, ein gebürtiger Einwohner  wurde entlang der Sozialistischen  tel gibt? Komm, ich zeige es dir.‘  und die Weite der Höfe und das  lösen die deutschen Häuser stets
        von TMS. Er hält das deutsche  Straße ein Fußweg aus Granitplat-  Und so kamen wir zum TMS. Es  kunstvolle Mauerwerk bewunderte.  einen „Wow-Effekt“ aus – sowohl
        Viertel für „den schönsten Ort in  ten angelegt, Laternen aufgestellt  war Sommer, alles war sehr grün,  Der bekannte Verfechter des Flach-  bei den Einwohnern von Tschelja-
        Tscheljabinsk“.               und Musik aus Lautsprechern  schöne Nachkriegsbebauung. Es  baus Ilja Warlamow* drehte einen  binsk, von denen viele zum ersten
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