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08 8 0 JAHRE KRIEGSENDE MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG
Nr. 12 (643) AUGUST 2025
Der Antiheld unter den Helden
Wie ein KZ-Sadist auf das Portal der sowjetischen Frontkämpfer gelangte
Die Untersuchung der Biografie musste und muss ich buchstäb-
von Michail Smetanski, seit 1943 Igor Beresin lich Stück für Stück zusammen-
ein mit Auszeichnungen geehrte tragen. Einiges ist mir heute – aus
Rotarmist und zuvor sadistischer verständlichen Gründen – nicht
Aufseher im Konzentrationslager zugänglich. So blieb beispielswei-
„Tote Schleife“, wies die Jour- se eine Anfrage an das Staatsar-
nalistin Jana Ljubarskaja auf ein chiv in Winniza um eine Kopie des
grundlegendes Problem hin. Die Gerichtsurteils im Fall Smetanski
Helfershelfer der Nazis werden erfolglos. Aber es gibt auch dieje-
bis heute auf Online-Gedenksei- nigen, die bereit sind zu helfen.
ten zusammen mit Kriegshelden Meine Kollegin aus den USA,
dargestellt. Der Versuch, dieses die hervorragende Journalistin
Problem in einem Einzelfall zu und Schriftstellerin Jelena Zwelik,
lösen, war teilweise erfolgreich. hat sich ebenfalls erfolgreich mit
der Geschichte des Lagers „Töd-
Der Fall Michail Smetanski liche Schlinge“ beschäftigt. Ihr
beweist: Selbst auf angesehenen Interesse an diesem tragischen
Portalen, die Daten über Teil- Ort war ebenfalls kein Zufall: Die
nehmer des Zweiten Weltkriegs Vorfahren von Zwelik lebten in
auf der Grundlage von Archivdo- der Stadt Brazlaw, deren jüdische
kumenten sammeln, können die Einwohner gnadenlos in das örtli-
Informationen unvollständig sein. che Ghetto und in die „Tödliche
Und zwar so unvollständig, dass Schlinge“ verschleppt wurden.
sich die Frage stellt, ob es ange-
messen ist, die Seite dieses oder
jenes Rotarmisten in den Gedenk- Identifiziert
listen zu führen. Ich habe in meinen Interviews
Ist es möglich, dass ein Nazi-Kol- mit den Opfern von Michail Sme-
laborateur neben denen steht, die Archivdokumente können und sollten elektronische Datenbanken noch bereichern. tanski oft Geschichten über seine
selbstlos gegen die Nazis gekämpft Gräueltaten aufgezeichnet. Aber
haben? Ja, leider ist das so. Unter den tapferen Rotarmis- im von Rumänen besetzten Teil dass sich noch jüdische Häftlinge ich konnte mir nicht vorstellen,
ten, die das Vaterland vor dem der Ukraine. im Lager befanden, änderte er die wie er aussieht, bis Jelena Zwelik
nationalsozialistischen Feind ver- Die Enzyklopädie „Der Holo- Route. Für die Häftlinge wurde er im Rahmen ihrer Arbeit ein Foto
Erinnerungskultur teidigten, findet man auf diesen caust auf dem Gebiet der UdSSR“, zum „Retterengel“. des mutmaßlichen Beteiligten der
online
Webseiten jedoch manchmal auch die vom Moskauer Wissenschafts- Ereignisse vor 80 Jahren an eine
Fast alle Einwohner Russlands Personen mit einer sehr zweifel- und Bildungszentrum „Holocaust“ der ehemaligen minderjährigen
und der ehemaligen GUS-Staaten haften und sogar kriminellen Ver- herausgegeben wurde, enthält Eine sehr persönliche Häftlinge des Lagers „Tödliche
Geschichte
haben Verwandte, die im Zweiten gangenheit. Darunter sind Kolla- Informationen darüber, dass in Schlinge“ schickte. Ida Spektor,
Weltkrieg gekämpft haben. Online- borateure, die mit den Besatzern diesem Lager 4500 Juden ermordet Für mich ist alles, was mit diesem Mitglied der Moskauer Vereini-
Ressourcen wie „Gedächtnis des zusammengearbeitet haben. wurden und 1500 überlebten. In Lager zu tun hat, auch eine sehr gung ehemaliger jüdischer Häft-
Volkes. Authentische Dokumen- Einer von ihnen ist Michail einer Mitteilung des Archivs von persönliche Geschichte. Bei mei- linge der Gettos und Konzentra-
te zum Zweiten Weltkrieg“ helfen Mironowitsch Smetanski, 1913– Winniza vom 21. Oktober 1988 nen Verwandten in Tultschin, einer tionslager, ist mittlerweile schon
dabei, Details über ihre Kriegsbio- 1945 (?). Seit 1943 diente er als über den Bezirk Tultschin heißt es, kleinen Stadt in der Region Win- viele Jahre alt. Aber sie erkannte
grafie zu erfahren und Auszeich- Tierarzt in der Roten Armee. dass von dort aus am 7. Dezem- niza, unweit Petschora, verbrach- ihren Peiniger ohne zu zögern auf
nungsurkunden einzusehen. Diese Zuvor war er als Wachmann im ber 1941 4340 Menschen nach te ich von meiner Geburt bis 2015 dem Foto, das von der Websei-
digitalisierten Dokumente sind Konzentrationslager Petschora Petschora deportiert wurden, von jeden Sommer. Von dort stammen te „Pamjat naroda“ stammt. Spä-
Teil der Datenbank des russischen tätig und schlug die dort inhaftier- denen 4030 starben, erschossen meine Mutter, mein Onkel, meine ter kam ich mit einer Kopie des
Verteidigungsministeriums. ten Juden brutal zusammen. oder zu Tode gefoltert wurden. Großeltern und meine Urgroßmut- Fotos zu ihr zu Besuch. Ida Spek-
Andere Ressourcen helfen Ver- Diese „Todesmaschine“ wurde ter. Vieles über das Schicksal der tor bestätigte: „Natürlich ist er das!
wandten ebenfalls, mehr über am 14. März 1944 aufgelöst. Die lokalen Juden während des Krie- Smetanski war ein Schurke erster
diejenigen zu erfahren, die wäh- „Tödliche Schlinge“ überlebenden Häftlinge des Kon- ges habe ich aus der Ausstellung Sorte, sehr bösartig, er hat mir
rend des Krieges in der Roten Das Konzentrationslager Petscho- zentrationslagers wurden von einer des örtlichen Heimatmuseums viele Verletzungen und schwere
Armee gedient haben, so zum ra am Ufer des Flusses Bug befand Einheit unter dem Kommando von erfahren. Blessuren zugefügt. Er hat mich
Beispiel die Webseiten „Unsterb- sich in der rumänischen Besat- Kapitän Boris Neiman befreit. Er Materialien über das Lager ohne Grund halb totgeschlagen!“
liches Regiment”, „Heldentat des zungszone, die seit Herbst 1941 hatte den Befehl, weiter nach Wes- „Tödliche Schlinge“ und über das Die Aussagen über die Grau-
Volkes“ und der virtuelle Muse- als Transnistrien bekannt war. Das ten vorzustoßen, aber als er erfuhr, Besatzungsregime in Tultschin samkeit von Michail Smetanski
umskomplex „Straße der Erinne- Lager wurde von der rumänischen
rung“. All dies sind sehr wichti- Gendarmerie kontrolliert und von
ge und gefragte Projekte. Hinter örtlichen Polizisten bewacht. Jana Ljubarskaja
der manchmal recht lakonischen Seit Anfang Dezember 1941
Benutzeroberfläche steckt eine wurden Juden aus den umliegen-
enorme Arbeit, die höchste Aner- den Gebieten, darunter Tultschin,
kennung verdient. Brazlaw, Schpikow und später
auch aus weiter entfernten Gebie-
ten wie Mogiljow-Podolski, dorthin
Unsterbliches Regiment gebracht, um langsam vernichtet zu
werden – nicht durch Kugeln und
Gas, sondern durch Hunger, Kälte,
Krankheiten und Schläge.
Auch Juden aus Bessarabien
und der Bukowina wurden in die
„Tödliche Schlinge“, wie dieses
Lager genannt wurde, verschleppt.
Wie in allen über 200 Lagern und
Ghettos Transnistriens hatten die
rumänischen Besatzer nicht vor,
die jüdische Bevölkerung lange
am Leben zu lassen. Das Lager in
Petschora war keine Ausnahme.
Historiker und Forscher
Michail Smetanski, der betrachten dieses Konzentrations- Ida Spektor hat ihren Peiniger auf dem Foto sofort erkannt.
Wächter im KZ Petschora lager als eines der schrecklichsten