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MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG                                     KULTUR                                                                           03
        Nr. 12 (643) AUGUST 2025






                   Einzigartiges                                                                                                                              Archstojanije (3)


                   Kunstfestival


               „Archstojanije“




        Russen finden sich in „weißer Stadt“
                    ohne Grenzen wieder


        Ende Juli durften tausende Men-  mehr Menschen an, die mit ihren
        schen aus ganz Russland das   Familienangehörigen oder Freun-
        dreitägige Festival für zeitgenös-  den anreisen.
        sische Kunst – „Archstojanije“ –
        unweit von Moskau besuchen.
        Dieses Jahr fand es zum 20. Mal    Zum Namen und
        statt. Zu bestaunen gab es tat-     zur Geschichte             Blick auf die Rotunde vom „Zeremonienplatz“
        sächlich einiges.             Das Festival findet seit 2006 statt.
                                      Der auf den ersten Blick ungewöhn-  ten Objekte interagieren mit dem   So konnten sich die Gäste etwa in  ohne Visa- und Passkontrolle und
                                      lich klingende Name „Archstojani-  Betrachter – man kann sie betre-  einem Flughafen, einem Kranken-  damit ohne Grenzen. Doch wenn
            Von Viktoria Nedaschkowskaja
                                      je“ (dt. „Arch-“ von Architektur und  ten, darauf klettern und auf ihnen  haus oder, anders gesagt, in einem  der Alltag, den man bedingt wahr-
        In der russischen Region Kaluga,  „Stojanije“ von Stehen) leitet sich  reiten.             „Gesundheitszentrum für müde  nimmt, in den Wald teleportiert
        drei Stunden von Moskau ent-  von der Nähe des Geländes zum    Die dank dem Fest entstandenen  Stadtbewohner“ wiederfinden, wo  wird, entstehen durch die Synthese
        fernt, hat vom 25. bis 27. Juli im  Fluss Jugra ab. Die Veranstalter  Objekte sind Teil der Landschaft  sie auf einem Bett über einem rie-  von Lebendigem und Nichtlebendi-
        größten Kunstpark Europas, Niko-  behaupten, dass in der Gegend, in  des Kunstparks Nikola-Leniwez  sigen MRT-Scan des Gehirns liegen  gem neue Bedeutungen, aus denen
        la-Leniwez, ein Festival für Land  der das Festival durchgeführt wird,  geworden. Seit 2006 wurden hier  und sogar eine „Impfung“ gegen  der Betrachter ein Gefühl für die
        Art und zeitgenössische Kunst  die berühmte Schlachtaufstellung  101 Kunstobjekte geschaffen und  Burnout erhalten konnten. In der  Natur des Seins gewinnt.
        stattgefunden.                an der Jugra im Jahr 1480 stattge-  mehr als 150 Autoren haben am  „weißen Stadt“ wurde sogar ein   Das Festival zielte also dar-
          In diesem Jahr feiert das Festi-  funden habe.             Festival teilgenommen.        Stadtrat errichtet.            auf ab, die Grenzen des absurden
        val sein 20-jähriges Jubiläum. Der   Für jedes Festival schaffen eigens                                                   Logos zu verwischen. Denn selbst
        Name wurde daher entsprechend  eingeladene Architekten Kunstob-                                                           wenn es möglich ist, die Grenzen
        angepasst: „ArXXstojanije“. Die  jekte aus natürlichen Materialien:   „Archstojanije“ 2025    Neuen Sinn für sich         eines Phänomens grob zu skizzie-
        Besucher erwarteten Kunstobjekte  Holz, Schnee, Heu, Weinreben  Das diesjährige Festivalthema lau-  entdecken             ren, bedeutet dies, dass es exis-
        und temporäre Installationen, Per-  usw. Einige Objekte sind funktio-  tete „Das Wichtigste für mich“. Die  So wurde im Bereich „Flughafen“  tiert. Dieses Jahr bot „Archstojani-
        formances, Musikbühnen, Vorträ-  nal: Flöße, Schaukeln, das mit 50  Organisatoren führten dies folgen-  das gewohnte Labyrinth aus roten  je“ erstmals ein Nachtprogramm:
        ge und vieles mehr. Jedes Jahr zieht  Metern längste Trampolin Euro-  dermaßen aus: Man lebe heute in  Bändern und elektronischen Anzei-  Tanz, Karaoke und Spaziergänge
        die Open Air-Veranstaltung immer  pas und sogar Toiletten. Die meis-  einer Metropole, die mit Bedeutun-  getafeln nachgebaut – allerdings  im Mondschein.
                                                                     gen überladen sei. „Es ist schwer,
                                                                     das Sehnlichste davon zu tren-
                                                                     nen – die Stadt in unserem Inne-
                                                                     ren.“ Über 50 Kunstobjekte wurden
                                                                     insgesamt auf dem Gelände von
                                                                     Nikola-Leniwez ausgestellt.
                                                                       Das diesjährige Festival lud die
                                                                     Gäste ein, auf der Suche nach
                                                                     „dem Wichtigsten“ eine Reise
                                                                     durch die „weiße Stadt“ zu unter-
                                                                     nehmen. Der Begriff impliziert
                                                                     eine „Innenstadt“ – ohne klare
                                                                     Grenzen, mit Raum für Fantasie
               Justizvollzugsanstalt mit Spiegeln für innere Transformation                          Ein Flughafen, der keine Grenzen hat.
                                                                     und Reflexion.




                   Ins Kulturzentrum GES-2 zum Jammern




                                 Moskauer üben öffentlich Mitleid mit sich selbst und anderen


        Das Moskauer Kultur-Kraftwerk   Laut den Organisatoren ging es  lichen, bei der man nicht prahlen                           Die Jury bewertete die Beschwer-
        GES-2, das durch seine unge-  bei der Veranstaltung um expe-  oder eine Aura des Erfolgs bewahren                      GES-2  deführer in drei Phasen: Kür,
        wöhnlichen Veranstaltungen    rimentelle Aktionen, die darauf  muss, sondern sein Gegenüber mit                           Beschwerden über Prüfungsauf-
        bekannt ist, hat seine Besucher in   abzielten, sich bemitleidenswert  düsteren Gedanken beladen, keine                   gaben und Beschwerden über die
        diesem Sommer mit einem beson-  zu fühlen oder Mitleid mit jemand  Angst davor haben muss, es zu ent-                     Jurymitglieder. Zuerst nutzten
        deren Programm überrascht. Die-  anderem zu erzeugen, Mitleid,  täuschen, und erklären kann, warum                        die Teilnehmer die vorgegebene
        jenigen, die Mitleid brauchen oder   Selbstmitleid oder Mitleid mit  man Mitleid verdient.                                Zeit, um sich über das Leben zu
        es dem anderen entgegenbringen   etwas oder jemandem öffentlich   Alle Dates verliefen anonym,                            beschweren.
        wollten, durften am „Kläglichen   zu zeigen.                 sodass das Aussehen des Partners   Teilnehmer beim Jammer-     Dann zog ein Teilnehmer ein
        Herbst“ teilnehmen. Und öffent-  Der Bereich „Schade um dich“  keinen Einfluss auf das Ergeb-  Turnier am Boden liegend   Ticket und beschwerte sich über
        lich über ihr Dasein jammern.   zielte darauf ab, Mitgefühl und  nis hatte. So befanden sich Män-                         das darauf angegebene Thema. Soll-
                                      Empathie für andere zu entwickeln.  ner und Frauen in verschiedenen  „elendes Buffet“ gab es: „Ein trauri-  te das Thema nicht gepasst haben,
                                      Bei „Schade drum“ konnte man die  Teilen des Raumes, durch einen  ger Anschein eines festlichen Tisches  konnte er ein neues Ticket ziehen.
            Von Viktoria Nedaschkowskaja
                                      Tiefe der Verbundenheit mit Din-  Vorhang getrennt, und unterhal-  und freie Kommunikation mit oder  Dafür musste er aber eine Strafe
        Das GES-2-Gemeindezentrum im  gen und Erinnerungen erforschen.  ten sich, ohne sich zu sehen. Die  ohne traurige Musik“, hieß es.  hinnehmen.
        Zentrum Moskaus, das sich im  Zu „Schade um mich“ schrieben  Treffen fanden wie am Fließband   Der unbestrittene Höhepunkt   Am Ende mussten die Teilneh-
        Gebäude eines ehemaligen Kraft-  die Veranstalter: „Wir versinken im  statt, sodass jeder mit jedem spre-  des gesamten Festivals war das  mer bewerten, ob ihr Platz in der
        werks befindet, veranstaltete vom  Selbstmitleid und kommen wieder  chen konnte.           sogenannte „Jammer-Turnier“,  Tabelle fair war. Die Besten muss-
        4. bis 20. Juli das Festival „Klägli-  daraus hervor.“         Dann folgte eine Analyse des  bei die besten Jammerlappen im  ten ihren Status begründen. Die
        cher Herbst“. Das Programm war   Die Idee hinter einer der eher unge-  Gejammers. Der Vorhang wurde  Selbtsmitleid ermittelte. Die ersten  Letztplatzierten beschwerten sich
        in drei Themenblöcke gegliedert:  wöhnlichen Veranstaltungen des  entfernt, und die Teilnehmer tausch-  drei Plätze erhielten Trostpreise,  über die Bewertungskriterien, und
        „Schade um dich“, „Schade drum“  Festivals, der „Miserable Dates“, war  ten mit Unterstützung der Mode-  der Gewinner des letzten Platztes  jeder verglich sich generell mit den
        und „Schade um mich“.         es, eine neue Erfahrung zu ermög-  ratoren ihre Eindrücke aus. Auch  aber einen Ermutigungspreis.   anderen Teilnehmern.
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