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MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG                      ZEIT GESCHEHEN                                                                                  05
        Nr. 16 (647) SEPTEMBER 2025






                       Zeiten voller Freude und bitterer Tränen



                        Der Bochumer Marvin Wiegandt erzählt von seinem Sibirien-Abenteuer

        In letzter Zeit haben viele Deut-  Da waren schneebedeckte Straßen,                                                       geschlossenen Lokals im Fischer-
        sche, die nach Russland kommen,   umschlungen von endlosen, weiß                                                          dorf bereiteten mir gratis Kost und
        ein gemeinsames Motiv: Euro-  gefrorenen Nadelwäldern. Eine klei-                                                         Logis und halfen mir am nächsten
        skeptiker ziehen in ein Land, in   ne Stadt mit einem einzigen beton-                                                     Tag, den Flughafen im Norden der
        dem traditionelle Werte hochge-  grauen und von jedweder Freude                                                        Aus dem Archiv von Marvin Wiegandt  Stadt zu finden.
        halten werden. Marvin Wiegandt   verlassenen Plattenbau, der umringt                                                        Sollte mein Vorhaben in Kras-
        hat jedoch eine andere Geschich-  von alten Holzbaracken, in denen                                                        nojarsk nicht von Erfolg gekrönt
        te. Wie sie begann, erzählt er   Menschen ohne Strom und Wasser                                                           sein, so bat man mich, nach Kali-
        in einem Text, den er an die   lebten, in den Himmel ragte. Die                                                           ningrad zurückzukehren. Gesagt,
        MDZ-Redaktion mailte.         zahlreichen Schornsteine rauchten.                                                          getan. Ich kehrte zurück. Mehr als
                                      Einen Supermarkt gab es nicht. Nur                                                          einmal. Bei jeder neuen Reise nach
        „Was spricht der Osten?“,     ein hungriger Bär trottete seelenru-                                                        Krasnojarsk besuchte ich ebenso
          fragt meine Oma.            hig durch neblige Gassen, und in der                                                        meine neu gewonnenen Freunde in
        „Wie geht’s Putin?“,          Ferne schimmerten die tiefblauen                                                            Kaliningrad, und es wurden immer
          fragt mein Chef.            Türme eines Eispalastes.                                                                    mehr. Bis zu fünfmal jährlich reiste
        „Schämst du dich nicht?“,       Alles, was ich über Russland                                                              ich in der Folge nach Krasnojarsk
            fragt mich ein Säufer.    wusste, entstammte den Erzählun-                                                            und auf diesem Wege auch gleich
        „Ich will nach Russland ...“,   gen meiner Großeltern und meines                                                          nach Kaliningrad. Ich besuchte
          denke ich.                  Vaters, der als Kind der DDR ein-                                                           „Schwanensee“ am Moskauer Bol-
                                      mal Leningrad besuchte, ein paar                                                            schoi-Ballett, gab als Muttersprach-
        Sie verstehen mich nicht. Denn  Liedern Udo Lindenbergs und dem                                                           ler ehrenamtlichen Deutschunter-
        ihre Informationen sind begrenzt,  1967 erschienenen Filmklassiker                                                        richt an Schulen und Universitäten
        ihre Gefühle nicht die meinen, ihre  „Die Schneekönigin“. Natürlich                                                       und erweiterte mit jeder neuen
        Kenntnisse gering, ihre Fantasien  waren da noch Olympia in Sot-                                                          Reise meinen engsten Freundes-
        vage. Immer wieder muss ich mich  schi und die Fußball-WM 2018,                                                           kreis um jeweils zwei bis drei Perso-
        in Deutschland dafür rechtferti-  die mich allerdings wegen des eher   Die Weiten Sibiriens (und nicht nur sie) haben Marvin fasziniert.  nen. Vor zwei Monaten feierte ich
        gen, mein Seelenheil in der eisigen  dürftigen Abschneidens der Deut-                                                     meinen Geburtstag in Krasnojarsk
        Ferne zu suchen, anstatt in der hei-  schen kaum interessierte.  atmen. Ich fühlte mich frei – und  Hause zu bleiben. Doch ich hatte  mit über 45 geladenen Gästen aus
        mischen Industrie-Tristesse. Heißt   Ansonsten war mein Geist unbe-  endlich angekommen.   einen Plan. Ich reiste mit dem Bus  ganz Russland. Einer von ihnen lud
        es doch in Deutschland, man solle  fangen und meine Neugier groß.   Im Schicksalsjahr 2022 entglitt  nach Danzig. Von dort bezahl-  mich ein, bei meiner nächsten Reise
        nicht in die Ferne schweifen, wenn  Keine zehn Monate später befand  mir plötzlich die Liebe, für die  te ich in bar für ein Ticket nach  den Baikalsee zu besuchen, ein wei-
        doch „das Gute“ so nah liegt. Aber  ich mich plötzlich, ohne es recht  ich einst nach Russland kam, und  Kaliningrad. Durch einen Freund  terer Gast bat mich, mit ihm nach
        was ist überhaupt dieses Gute? Wo  zu realisieren, im Flieger Rich-  eigentlich könnte meine Geschich-  in Uganda bezahlte ich vorab per  Norilsk zu kommen. Auch Angebo-
        setze ich meinen winzigen Maßstab  tung Moskau. Ungläubig schauten  te hier enden. Doch das tut sie  Western Union eine Unmenge an  te aus dem Altai, aus Sotschi und St.
        an, wenn ich die Ferne, die mich  meine Augen den ganzen Flug über  nicht. Im Grunde war dies erst der  Geld, um einen Flug von Kalinin-  Petersburg waren dabei, und seit ich
        ruft, noch nicht kenne.       gebannt aus dem Fenster. Aus der  Beginn des zweiten Aktes.  grad nach Krasnojarsk zu buchen.  angefangen habe, „Der stille Don“
          Sie verstehen mich wohl wirklich  Luft erkannte ich die Lichter Dan-  Es nahte der Herbst, die Quaran-  Die Grenzkontrollen gestalteten  zu lesen, möchte ich unbedingt in
        nicht. Doch mir ging es ja nicht  zigs und Kaliningrads, und zum ers-  tänebestimmungen wurden über  sich erwartbar schwierig, denn auf  die Don-Region reisen. Es scheint
        anders. Vor fünf Jahren. Bevor ich  ten Mal sah ich die Heimat meiner  den Sommer etwas gelockert, und  meinem Covid-19-Zertifikat fehlte  ganz so, als sei diese Geschichte
        zum ersten Mal aufbrach, meine  Großmutter, die 1945 als 15-jähri-  ich wollte einen letzten Versuch  ein Detail. Langes Warten, Zittern,  noch lange nicht zu Ende. Es gibt
        Vorurteile zu überprüfen; bevor  ges Mädchen aus Königsberg flüch-  wagen, die zerrütteten Verhältnisse  Bangen, ein spontaner Schnell-  noch so vieles zu entdecken. Ich
        der laszive Ruf Sibiriens an mein  tete und bis zu ihrem Tod 2015 nie  zu meiner Eisprinzessin zu restau-  test unter genauer Beobachtung  möchte mit dem Zug nach Wla-
        Ohr drang und mich die zarte, lie-  wieder dorthin zurückkehrte.  rieren. Doch die politische Land-  der Grenzbeamten, dann war ich  diwostok fahren, im Ural wandern
        bende Hand meiner Eisprinzessin   Wie in einem Traum schien es  schaft hatte sich inzwischen ver-  drin. Ohne Rubel oder Internet,  und die Eremitage besuchen, eine
        behutsam durch ihr Reich führte;  mir, als gegen 22 Uhr der Landean-  ändert. Flugreisen nach Russland  völlig aufgeschmissen, wanderte  Datscha kaufen und Wolgograd
        bevor ich – schneeblind von all der  flug auf Scheremetjewo begann und  wurden beinahe unmöglich. Trans-  ich des Nachts hilflos und allein  sehen … Ich spüre, dieses Land hat
        Schönheit – unwissend von einem  rechts von uns rote Feuerwerksra-  aktionen mit russischen Unterneh-  durch die Straßen Kaliningrads.  mir noch viel zu erzählen, und ich
        Abenteuer ins nächste stolperte.  keten in den Himmel schossen. Auf  men und Banken wurden gesperrt.  Ein paar fremde, überaus herzliche  kann es kaum erwarten, all seinen
          Mein Name ist Marvin. Ich  der Landebahn war es bitterkalt  Meine Familie ermahnte mich, zu  Restaurantmitarbeiter eines bereits  Geschichten zu lauschen.
        bin 25 Jahre alt und komme aus  und feine Eiskristalle wirbelten wie
        Bochum, Deutschland. Dies ist  Funken durch die klare Nachtluft.
        meine Geschichte. Es war Novem-  Nach einer zweistündigen Pause
        ber 2020. Die Covid-19-Pandemie  ging es weiter und sechs Stunden
        legte Deutschland und die Welt in  später betraten meine Füße zum
        ihre unsichtbaren Ketten, und ich  ersten Mal den sibirischen Boden.
        befand mich – wie viele andere  Bis heute komme ich nicht umhin,
        auch – in einer Schwebe zwischen  diesen Tag als den schönsten und
        sozialer Isolation, nie gekannter  schicksalhaftesten meines Lebens
        Stille und einer von markdurch-  zu bezeichnen.
        dringender Einsamkeit überschat-  Was folgte, waren Zeiten voller
        teten Ungewissheit, wie es nun wei-  Freude, Erinnerungen und bitterer
        tergehen würde.               Tränen. Ich wanderte unstet und
          In all diese menschenleere Stille  heimatlos durch die Ferne, doch
        hinein klang plötzlich eine Stim-  mein Weg führte mich früher oder
        me. Zart, zerbrechlich, würdevoll  später immer wieder zurück in
        und voller Stolz. Ihr Klang legte  diese feine, ferne Welt. Ich reiste
        sich wie Balsam auf meine sozial  ein ums andere Mal in die sibirische
        verkümmerte Seele und versprach  Taiga, erlebte, was wahre Freund-
        mir all das, wonach ich mich so  schaft heißt, wie man Wodka aus
        sehr sehnte.                  Flaschen trinkt, wie man nach der
          „Woher kommst du?“, fragte  Banja Schneebaden geht und sich
        ich. „Krasnojarsk“, entgegnete sie.  ein Küsschen gibt, nachdem man
        „Krasno... was?“ Ich war verwirrt.  auf die Bruderschaft getrunken hat.
        Noch nie hatte ich von einem Ort  Ich begann Russisch zu lernen und
        wie diesem gehört. In mein Tage-  Jessenin, Dostojewski und Pusch-
        buch schrieb ich kurzerhand Fol-  kin zu lieben.
        gendes: „Heute lernte ich eine   Ich wurde zum ersten Mal wirk-
        junge Frau kennen. Sie kommt aus  lich geliebt, und zum ersten Mal
        Nowosibirsk.“                 begann ich selbst wirklich zu lie-
          Ich erinnere mich noch genau,  ben. Russland gab meinen Händen
        wie ich mir Russland – und Sibiri-  einen Halt, meiner Seele eine Hei-                                                                               РЕКЛАМА
        en im Speziellen – damals vorstellte.  mat und meinen Lungen Luft zu
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