Page 3 - 647
P. 3

MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG                             BLICKPUNK T                                                                              03
        Nr. 16 (647) SEPTEMBER 2025






                                        Verloren, aber nicht vermisst



              Die Doku-Autorin Julia Budinaite begleitet die Arbeit des Rettungsteams „LizaAlert“

        Die Such- und Rettungsmann-                                                                                               Als Drehbuchautorin wollte ich
        schaft „LizaAlert“ hilft seit                                                                                          LizaAlert  unbedingt zeigen, was in den
        14 Jahren dabei, vermisste Men-                                                                                           „Unruhigen Nächten“ mit der vielen
        schen nach Hause zurückzubrin-                                                                                            Action und Bewegung nicht immer
        gen. Und seit fünf Jahren beglei-                                                                                         gelingt. Im Gegensatz zur Serie
        tet ein Filmteam ihre Arbeit. Die                                                                                         handelt dieses Stück davon, was die
        Produzentin und Drehbuchautorin                                                                                           Mitglieder der Gruppe fühlen.
        der Dokumentarserie „Unruhige                                                                                               Nun, zum Beispiel Mädchen, die
        Nächte“ Julia Budinaite erzählt                                                                                           im Wald nach einem vermissten
        der MDZ von den Schwierigkeiten                                                                                           kleinen Kind suchen und „Töchter-
        und Erfolgen ihrer Arbeit.                                                                                                chen“ rufen. So gehört es sich – mit
                                                                                                                                  Frauenstimmen, um das Kind nicht
        Vor fünf Jahren erschien die erste                                                                                        zu erschrecken. Ich glaube, das ist
        Folge der Dokumentarserie „Unru-                                                                                          uns in diesem Stück gelungen.
        hige Nächte“. Sie handelt von der
        Suche nach vermissten Menschen                                                                                            Wie kann man die Balance zwi-
        durch die Rettungsmannschaft                                                                                              schen Empathie für das Geschehen
        „LizaAlert“. Ihr Leiter, Grigori                                                                                          und der Rolle als Regisseur oder
        Sergejew, schreibt auf Telegram,                                                                                          Produzent des gesamten Prozesses
        dass er und seine Kollegen schon                                                                                          mit kühlem Kopf bewahren?
        lange von der Realisierung dieses                                                                                         Im Grunde genommen ist es ein-
        Dokumentarprojekts geträumt hät-                                                                                          fach ein Beruf. Aber ich glaube
        ten. Die Sache kam ins Rollen, als   Das Happy End einer Folge: Das Kind ist gerettet.                                    übrigens nicht, dass man während
        er Julia Budinaite mit dieser Idee                                                                                        des gesamten Prozesses einen küh-
        ansprach. Zusammen mit dem  zu einer einfachen Fernsehshow zu  einfach. Zum Beispiel sind viele  Gibt es für Sie eine besonders   len Kopf bewahren muss.
        Regisseur Timofej Charkewitsch  entwickeln. Da begannen wir darü-  Dinge für den Zuschauer einfach  einprägsame Geschichte oder
        „spürten sie den Rhythmus und  ber nachzudenken, dass wir etwas  nicht verständlich. Unsere Kame-  Serie?                 Wollten Sie jemals die Kamera
        den Puls der Rettungsmannschaft“,  Eigenes machen mussten, nämlich  raleute halten das Geschehen fest,  Nun, natürlich die allererste, „Jura,  weglegen und sich der Suchmann-
        schreibt Sergejew.            über die Gruppe und die Suche  sie dürfen die Suche nicht behin-  b... bleib stehen“, die vor fünf  schaft anschließen?
          Es sind bereits mehrere Staffeln  nach vermissten Personen – und  dern. Dabei gibt es eine sorgfältig  Jahren herauskam und bis heute  Niemand sollte jemals die Kamera
        mit sehr interessantem Material  das haben wir dann auch zusam-  ausgearbeitete Suchmethode und  immer noch aufgerufen wird. Und  weglegen. Aber ich habe gar keine.
        erschienen, das das Team auf der  men mit unserem großartigen  strenge Regeln, die den Mitglie-  vielleicht ist es die erste Folge der  Natürlich wollten wir uns anschlie-
        Webseite VK veröffentlicht. Die  Regisseur Timofej Charkewitsch  dern der Gruppe bekannt sind  neuen, bereits fünften Staffel, in der  ßen, und das haben wir auch getan.
        Gruppe filmt, wie es ist. So kön-  umgesetzt. Das war übrigens genau  und nicht immer ausgesprochen  wir die Suche nach einem sechsjäh-  Tatsächlich sind wir schon seit
        nen sie alle Mängel der Suchme-  vor fünf Jahren: Die erste Folge  werden. Dementsprechend wer-  rigen Jungen filmten, der im Wald  langem einfach Mitglieder der
        thoden festhalten, um später aus  erschien am 31. August 2020.  den viele wichtige Dinge, die das  in der Region Perm verschwunden  Mannschaft.
        den Fehlern zu lernen. Es handelt                            Geschehen erklären, einfach nicht  war. Das Kind verbrachte drei Tage
        sich um echte Dokumentarfilme –  Was ist das Schwierigste am   gefilmt. Und wir verwenden kei-  im Wald. Emotional war das beson-  Das Interview führte
        ohne Film effekte, Schauspieler und  Drehen?                 nen Off-Text – das ist ein ganz  ders bewegend, auch weil sich  Jewgenia Safronowa.
        Fiktion.                      Bei diesem Projekt ist alles schwie-  anderes Format.        alles am Tag nach unserer ersten
                                      rig (sie lacht). Im Ernst, es ist eine                       Aufführung des Stücks „8 Grün-
        Julia, wie kam es zu der Idee für   Art Produzentenhölle: Man kann  Wie bereiten Sie sich auf die   de, nach vermissten Kindern zu
        diese Serie?                  hier nichts planen, denn wir wissen  Dreh arbeiten vor?      suchen“ ereignete. An dieser Suche
        Ich habe Grigori Sergejew, den  nie, wo und wann eine Person ver-  Es wird ein großes Kamerateam  nahmen die Darsteller des Stücks
        Vorsitzenden des Rettungsteams  schwindet und wie die Geschichte,  zusammengestellt, ein Chat einge-  teil, und wir alle waren emotional
        „LizaAlert“, kennengelernt, als ich  die wir drehen wollen, ausgeht. Bei  richtet und der Beginn der Dreh-  sehr mitgenommen. Ich finde, die
        noch bei der Sendung „Warte auf  uns ist es vorgekommen, dass wir  arbeiten angekündigt. Das ist  Folge ist hervorragend geworden.
        mich“ (Fernsehsendung, Talkshow  nach 15 Stunden Dreharbeiten bei  eigentlich schon die gesamte Vor-
        und gleichzeitig öffentlicher Such-  der Suche festgestellt haben, dass  bereitung. Danach beobachten wir  Sie haben ein Theaterstück über
        dienst für vermisste Personen, seit  wir diese Folge nicht ausstrahlen  einfach, was so läuft. Unsere Aufga-  vermisste Kinder inszeniert, das im
        14. März 1998 im russischen Fern-  können. Oder dass das Kamera-  be ist es, zu erraten, welche Suche  Mai in Moskau erfolgreich aufge-
        sehen ausgestrahlt – Anm. d. Red.).  team zum Ort der Suche fuhr und  „unsere“ ist und zu versuchen, sie  führt wurde. Was war Ihnen dabei   Ältere Personen gehören zur
        Damals war ich Projektleiterin und  nach drei Stunden Fahrt sofort wie-  rechtzeitig zu erwischen.  besonders wichtig?      Klientel vom Rettungsteam.
        Chefredakteurin. Grischa war sogar  der zurückkehrte, weil die Person
        eine Zeit lang Co-Moderator unse-  schnell gefunden wurde oder von
        rer Sendung. Aber in „Warte auf  selbst zurückkam.
                                                                         ZUM THEMA
        mich“ ging es doch hauptsächlich   In unserem Projekt wird das
        um Menschen, die ihre familiären  Drehbuch nicht im Voraus      „LizaAlert“: 14 Jahre Suche
        Bindungen verloren hatten. Außer-  geschrieben. Es entsteht während
        dem begann sie sich mit der Zeit  der Sichtung des bereits gedrehten
        von einem großen sozialen Projekt  Videos. Das ist auch nicht immer   Seit 14 Jahren hat das freiwillige   und „Vkusvill“ hat das Team von   Theateraufführungen und Installa-
                                                                        Rettungsteam „LizaAlert“ an der   „LizaAlert“ sogenannte Sicher-  tionen statt.
                                                                        Suche und Rettung von mehr als   heitsinseln eingerichtet, an denen   „LizaAlert“ ist ein Team von mehr
                                                                        273 000 Menschen teilgenommen.   geschulte Mitarbeiter den Ver-  als 40 000 Menschen. Es handelt
                                                                        Davon wurden mehr als 235 000   missten Erste Hilfe leisten. Dem   sich um Freiwillige in 64 Regi-
                                                                        lebend gefunden. Insgesamt   Verschwinden von Kindern wird   onen Russlands. Menschen aus
                                                                        wurden in dieser Zeit mehr als   immer große Bedeutung beige-  ganz unterschiedlichen Berufen
                                                                        318 000 Anfragen entgegenge-  messen, zumal die Geschichte der   übernehmen in der Gruppe Aufga-
                                                                        nommen und bearbeitet. Und die   Gruppe vor 14 Jahren mit der   ben als Koordinatoren, Kartogra-
                                                                        Arbeit wird nicht weniger. Allein   Suche nach dem Mädchen Liza   fen, Funker, Reiter, Hundeführer,
                                                                        in der ersten Septemberwoche   in Orechowo-Sujewo begann.   Meldebeamte und vieles mehr.
                                                                        2025 gingen bei der Hotline   Jedes Jahr werden laut Angaben   Neben der Teilnahme an Suchak-
                                                                        der Organisation 872 Anfragen   des Innenministeriums zwischen   tionen in Städten und Wäldern
                                                                        zu Vermissten in der Natur ein.   33 000 und 43 000 Minderjäh-  helfen die Freiwilligen auch aus
                                                                        Dabei handelt es sich hauptsäch-  rige vermisst. Am 25. Mai, dem   der Ferne, beispielsweise als Hot-
                                                                        lich um Pilzsammler, die sich im   Internationalen Tag der vermissten   line-Mitarbeiter. Die Freiwilligen
                                                                        Wald verirrt haben. Auch ältere   Kinder, organisiert das Team unter   rufen Krankenhäuser an, drucken
                                                                        Menschen, die an Alzheimer und   der Leitung von Grigori Sergejew   Suchanzeigen für Vermisste aus,
                                                                        Demenz leiden, verschwinden   Veranstaltungen, um auf dieses   teilen Beiträge in sozialen Netz-
                                                                        ständig. In Zusammenarbeit mit   Problem aufmerksam zu machen.   werken und sehen sich Drohnen-
                                                                        den Geschäften „Pjaterotschka“   In ganz Russland finden Aktionen,   aufnahmen an.
          Julia Budinaite: „Niemand sollte jemals die Kamera weglegen.“
   1   2   3   4   5   6   7   8